Teil 2 der Reihe „Digitaler Minimalismus“
Es gab eine Zeit, in der ich mich als ambitionierte Person sah. Ich hatte (fragwürdige) Absichten von Entrepreneurship und öffentlicher Anerkennung. Das resultierte in ein paar gegründeten Firmen und mehr oder minder erfolgreichen Produkten. Irgendwann ließen diese Absichten nach, was sich zeitlich grob mit der steigenden Prominenz von Twitter und Social Media in meinem Leben in Verbindung gebracht werden kann.
140 Zeichen (only OGs will remember) reichten plötzlich um mir das Gefühl zu vermitteln, dass ich etwas erreicht hatte. 200 Leute haben sich freiwillig dazu entschieden meinen 140-Zeichen-Ergüssen zu folgen, also müssen sie eine gewisse Wichtigkeit haben. Unterbewusst muss das für mich im Umkehrschluss ein Gefühl von Produktivität erzeugt haben, das jeden anderen Anspruch an Output mit Mehrwert getilgt hat.
Fast forward zum Januar 2020. Im Fitnessstudio, wo ich zwischen jeder Wiederholung intensiv Twitter und Instagram checkte, entschied ich, dass Quantität über Gefühl geht und baute mir an meinem iPhone mit Shortcuts und Toolbox Pro ein Script, das jedes Öffnen von Twitter und Instagram zählte. Das Ergebnis nach anderthalb Tagen: 200 Mal. Jeweils.
Dass ich mich in seltenen Momenten der geistigen Klarheit dabei erwischte, wie ich seit 45 Minuten völlig ziellos abwechselnd Twitter, Instagram und Reddit öffnete, zeigte mir mehrmals, dass mein Verhältnis zu diesen Services nicht gesund sein kann. In diesen Momenten wollte ich aufhören und diesen Kreislauf unterbrechen, aber so albern es klingt: Ich konnte nicht.
Das ist besonders lächerlich, wenn man bedenkt, dass es mein Job ist Software zu konzipieren und gestalten, die Leute gerne und hoffentlich regelmäßig nutzen. Ich verstehe, auf professioneller Ebene, welche Mechaniken dazu führen, dass ich in diesen Kreislauf gerate. Dass ich mich trotzdem nicht von ihm lossagen kann, verpasst der Situation eine interessante Prise Erbärmlichkeit. Ich sehe was passiert, ich verstehe wodurch es passiert, ich will nicht, dass es passiert und trotzdem passiert es.
Ich konnte meine eigene Erwartung an mich – über diesen Mechaniken zu stehen, sie von außen als Mittel zum Zweck zu verstehen und mich nicht von ihnen fangen zu lassen – nicht erfüllen. Die Realität sah so aus, dass ich jede freie Sekunde (Mehr dazu im nächsten Eintrag zu diesem Thema) damit verbrachte irgendeinen Feed zu checken. Selbst, wenn ich schon so wenig Leuten folgte, dass nur alle 1-2 Stunden überhaupt ein neuer Eintrag kam, erwischte ich mich dabei alle 2-5 Minuten zu refreshen.
Im Mai 2019 störte ich mich zum ersten Mal bewusst an diesen Momenten der ewigen App-Öffnungs-Kreisläufe ohne merklichen Gewinn. Damals bezeichnete ich das als “Ich komme gerade nicht so gut mit Screens klar”. Was nur bedingt richtig war, weil die Screens nicht das Problem waren, sondern die Timelines. Meine Lösung waren Papierbücher. Nicht die Kindle App auf iOS-Geräten, kein Hardware-Kindle, einfach ein Buch. Aus Papier. Am Ende des Jahres hatte ich dann plötzlich 40 Bücher gelesen. Mehr als in den fünf Jahren davor zusammen.
Eines der Bücher war „Digital Minimalism“ von Cal Newport, der seitdem mein persönlicher Messias ist. Cal, wie ich ihn nenne, schafft es Self-Help Sachbücher zu schreiben, die einem nicht fünf Schritte zu einem besseren Leben verkaufen, sondern theoretische Hintergründe vermitteln. Das ist genau wie ich funktioniere. Ich muss grundlegende Systeme verstehen um überzeugt zu sein, dass die sich daraus ergebenden nötigen Handlungen Sinn ergeben.
Grob paraphrasiert erklärt mein BFF Cal in „Digital Minimalism“ unter anderem, dass das Gehirn Ruhephasen, also Phasen ohne neue Eindrücke, nutzt um über soziale Kontakte nachzudenken.
Verstanden zu haben, dass Ruhephasen nicht verschwendete Zeit sind, sondern erforderte und erstrebenswerte Momente, ließ mich seitdem anders auf jede Minute ohne neue Inhalte blicken. Es hat meine Sicht auf meinen Alltag verändert.
Ich nahm also alle Social Media Apps und bugsierte sie in einen Ordner auf eine der hinteren Seiten meines Homescreens. Drei Tage später habe ich 200 Mal in 1,5 Tagen zu der hinteren Seite navigiert, auf den Ordner getappt und so die entsprechenden Apps geöffnet.
Erst ein halbes Jahr später, ein halbes Jahr in dem ich ständig darüber nachdachte, dass mein guter Freund Cal schon Recht hat und mein Verhalten falsch ist, las ich ein weiteres Buch von ihm. „Deep Work“. Behandelt konzentriertes Arbeiten, aber auch noch mal, welchen Einfluss ständige Kontext-Wechsel und fehlende Ruhephasen auf das generelle Leben (Qualität der Arbeit, Verschwendete Zeit, Gefühlte Ruhe) haben. Gepaart mit meiner quantitativen Analyse über die tatsächliche Anzahl Öffnungen von Instagram, Twitter und Reddit, löschte ich die Apps – die seitdem wieder ihren Weg auf die erste Seite meines Homescreens gefunden hatten – am ersten Februar 2020.
Seitdem habe ich keine neue Firma gegründet und auch meinen produktiven Output nicht um 200 % erhöht. Was aber auch nicht passierte ist, dass ich diese Services wirklich vermisst habe. Das hat viel damit zu tun, dass mein Leidensdruck so groß war, dass ich endlich genug Energie hatte um mich aus meiner Misere zu befreien.
Für jemanden, der drei Mal am Tag ein paar Stories auf Instagram guckt und dann vier Tweets liest, klingt das alles vielleicht als würde ich maßlos übertreiben. Um zu beschreiben, wie wenig ich mit Timelines und dem Drang nach Dauerbeschallung durch frische Inhalten umgehen konnte, werde ich im nächsten Eintrag dieser Serie einen durchschnittlichen Tag in meinem alten Leben beschreiben. Wenn das wie ein Teaser klingt um euch bei der Stange zu halten, ist das wahr. Wie ironisch.
Alle Einträge zur Reihe Digitaler Minimalismus
Teil 1: Digitaler Minimalismus
Teil 2: Erwartung vs. Realität
Teil 3: A Day In The Life Of An Idiot
Teil 4: Der 3-Phasen-Plan
Teil 5: Twitter, Instagram & Reddit
Teil 6: Daily News & Podcasts
Teil 7: Mein Digitalplan für die Zukunft