Ich, ein 30 jähriger Mann, trage seit letztem August eine Zahnspange

Seit ich eine „Zahnspange“ trage und allen davon erzähle, höre ich ständig, dass niemandem vorher jemals aufgefallen sei, dass meine Zähne nicht gerade waren. Klingt als wären die 3000 € für die Behandlung keine gute Investition gewesen.

Aber von Anfang an. Irgendwie kam meine Mutter nicht auf die Idee, dass es vielleicht sinnvoll wäre ihren Sohn dazu zu zwingen eine Zahnspange zu tragen. Ich kann nicht behaupten, dass es sich dabei um ihr größtes Versäumnis handelt, aber es ist auf jeden Fall das, was mich seither täglich tatsächlich belastete. Klar, Aussehen ist egal und alle richten sich immer nur nach den inneren Werten, niemand sollte jemals in einen Spiegel schauen und eine nicht positive Meinung zum eigenen Aussehen haben! Ich ließ allerdings zu wenig Lobotomien über mich ergehen um wirklich daran zu glauben. Also verbrachte ich 15 Jahre damit mich zu ärgern, dass meine Vorderzähne krumm waren.

Der 3D-Scan meines Oberkiefers. Also nicht mein spezieller Kiefer, den ich nutze, wenn ich Ober bin, sondern der obere Kiefer. Ihr wisst schon. Zwischen vor- und nachher wechselnd. Multimedia! (Nachher ist der nicht-schiefe Zustand, falls das unklar war.)

Nicht ein bisschen krumm. So krumm, dass ich den maximalen Preis beim Zahnschienen-Anbieter meiner Wahl zahlen musste. Dass die verrückten Winkel meiner Zähne offenbar kaum jemand bemerkt hat, ist ein guter Indikator dafür, wie viel Energie ich darauf verschwendete bloß nie in einem Winkel zu lachen, der meine Zähne auf eine visuell nachteilige Weise zeigen könnte. Es gibt auch nicht ohne Grund keine Bilder von mir, auf denen ich Zähne zeigend lächle. Aktuell gewöhne ich mir bewusst an nicht mehr nach unten zu gucken, wenn ich lachen muss. Nicht so leicht, wenn man 15 Jahre Übung hat.

Ich kam nicht erst mit 30 auf die Idee meine Zähne geradebiegen zu lassen. Im Gegenteil, seit ich 20 war trug ich den Gedanken mit mir rum. Allerdings auch irrationale Gedanken wie „Was sollen die Leute denken?“, „So finde ich niemals einen Job!“, „Mit einer Zahnspange bleibe ich für immer single!“ und „Was, wenn ich damit in der Tür einer U-Bahn hängenbleibe und mir der Kopf abgerissen wird?“. Tja. Schwierig. 10 Jahre Selbstreflexion und mentales Wachstum später, war es irgendwie noch immer ein großer Schritt, aber zumindest möglich. Nicht zuletzt, weil die Erfindung der transparenten Zahnschiene mein dann doch noch teilweise fragiles Ego zumindest in visueller Hinsicht beruhigen konnte. Meine Angst davor ein Jahr (die länge meiner Behandlung) zu lispeln war zwar noch immer groß, aber nicht groß genug mich davon abzuhalten.

Ich nutze seit ungefähr drei Jahren Close-Up, eine App mit der man täglich ein Bild seines Gesichts macht um dann über die Dekaden hinweg seinen körperlichen Verfall zu beobachten und leise wimmernd in sein Kissen zu weinen. An Tag 1 der Zahnschienen-Behandlung wechselte ich zu Fotos, auf denen ich meinen Kopf nach hinten Beuge und meinen Mund aufreiße um die Zahnfehlstellung möglichst sichtbar zu machen.
Diesen Beitrag schreibe ich jetzt, Ende April 2020, obwohl die Behandlung erst im August 2020 beendet sein wird, weil ich diese Woche eine überraschende Erfahrung machte.

Vorher/Nachher meines Unterkiefers. Der hat mich vorher nie groß gestört. Dieser Teil brauchte auch nur ein halbes Jahr und seit ein paar Wochen ist er fertig und ich trage nur noch nachts einen Retainer.

Mein iPhone erinnerte mich an das noch zu machende Close-Up Bild des Tages, ich öffnete die App, lehnte meinen Kopf zurück, damit die Fehlstellung besser sichtbar wird. Wurde sie aber irgendwie nicht. Also lehnte ich den Kopf weiter zurück. Und noch weiter. Als ich mich dann ärgerte, dass ich das iPhone Display nicht mehr richtig sehen kann, wurde mir bewusst, dass diese Probleme einen direkten Beweis dafür darstellen, dass meine Zähne nicht mehr schief sind. Bis dahin war mir das nicht so wirklich bewusst.

Klar, sie sind noch nicht perfekt gerade. Aber theoretisch – würde ein Dieb mit fragwürdigen Prioritäten einbrechen und meine verbleibenden Zahnschienen für die nächsten Monate klauen – wäre ich mit dem aktuellen Status meiner Zähne recht zufrieden. Das konnte ich vorher noch nie von mir sagen.

Noch bin ich nicht bereit Vorher/Nachher Bilder vom bisherigen Fortschritt zu zeigen. Nicht, weil ich sie nicht hätte, sondern weil mir noch immer zu unangenehm ist, wie ich vorher aussah. Ist albern und irrational, aber manchmal ist das so. Vielleicht zeige ich das irgendwann, wenn mein neues Gerade-Zähne-Ich so sehr in mein Selbstbild übergegangen ist, dass die vorherige Version nur noch eine ganz interessante Erinnerung darstellt. Wie schlechte Frisuren in den 90ern.


Im Nachhinein hätte ich das alles schon viel früher machen sollen. Wenn ich jetzt in den Spiegel gucke, fühle ich mich so dermaßen viel wohler als jemals zuvor. Und ich bin noch nicht mal fertig! Für dieses Gefühl wäre mir sogar eine feste, nicht unsichtbare Zahnspange und zwei Jahre intensives Lispeln nicht zu unangenehm gewesen. Da man sowas aber schließlich vorher nicht weiß, schreibe ich das hier. Für Leute, die das vielleicht auch schon lange vor sich herschieben und nur noch einen kleinen Ansporn brauchen.

Der ganze Prozess hat mir so gut gefallen, dass ich ein anderes Thema ins Auge (haha!) fasste: Augenlasern. Vorher war es für mich nicht in Frage kommend. Jetzt bin ich zumindest daran interessiert mich da mal besser zu informieren. 30 Jahre Brille tragen reicht.

Als Rahmeninformationen, hier die groben Fakten meiner Zahnschienen-Behandlung:

  • Ein Jahr Behandlungsdauer
  • 3000 €
  • Die Schienen müssen mindestens 22 Stunden am Tag getragen werden.
  • Man darf mit den Schienen im Mund nichts essen.
  • Man muss nach jedem Essen seine Zähne putzen.
  • Vor jedem Wiedereinsetzen sollten die Schienen gereinigt werden.
  • Man darf mit den Schienen keine Getränke außer Wasser trinken, weil sie sich sonst verfärben, oder sich durch heiße Getränke verformen.
  • Jedes Paar Schienen wird zwei Wochen getragen.
  • Die ersten paar Tage jeder neuen Schiene resultieren in Schmerzen. Für meinen Geschmack aber meistens nicht genug, oft fühlte es sich an als würde gar nichts passieren, was vermutlich der Optimalzustand sein sollte. Aber ich war im Vorfeld sehr bereit starke Schmerzen zu akzeptieren, weil ich auf YouTube Leute habe heulen sehen, die die Schmerzen nicht mehr aushielten. Entweder ich bin sehr schmerzresistent (unwahrscheinlich), oder meine Behandlung war relativ entspannt.

Habe mit den Schienen so ziemlich jede Situation durch, vor der man im Vorfeld Angst haben könnte und beantworte gerne alles. Für etwaige weitere Fragen ist der Kommentarbereich unten geöffnet. Ich lese keine Tweets und benutze kein Instagram, also ist das der beste Ort für Kommunikation.

Hallo, ich bin Marcel, zeichne selten Comics, schreibe manchmal Texte, gestalte öfter Digitale Produkte und interessiere mich für Bücher, Digitalen Minimalismus, Philosophie, Kunst und Videospiele. 👋

11 Kommentare

  • Danke für deinen ausführlichen Bericht.

    Ich hatte die letzten zwei Jahre innen angebrachte Brackets, die also von außen nicht sofort sichtbar sind. Jetzt bin ich in der Phase, in der ich für einige Monate mindestens Nachts zwei Zahnschienen (also unten und oben) zur Stabilisierung der neuen Position trage. Aber auch danach werde ich dauerhaft einen innenliegenden Bogen (den sieht niemand) im Unterkiefer tragen, damit die neue Zahnstellung auch so bleibt.

    Nun endlich zu meiner Frage – wie ist das bei der Zahnschienenbehandlung auf lange Sicht? Also wie wird da sichergestellt, dass es nicht wieder zur alten Zahnstellung kommt?

    • Genau so! Entweder man trägt für immer nachts eine Retainer-Schiene, oder man lässt sich so einen Bogen einsetzen. Ich werde mich für letzteres entscheiden. Kostet zwar noch mal extra und läuft Gefahr alle paar Jahre mal kaputt zu gehen, aber dafür muss man sich in der Zwischenzeit nicht mehr drum kümmern.

  • Ich habe mir die Augen lasern lassen mit 31. Die Bedeutsamkeit der Entscheidung deckt sich mit der von dir beschriebenen bzgl. der Schiene.

    • Das höre ich gerne! Wird bei mir vermutlich nicht mehr dieses Jahr, aber ich tendiere immer mehr dazu, das mittelfristig auch anzugehen. Ist ja auch, im Vergleich zur Zahnspange, eine ganz angenehm flotte Angelegenheit.

  • Hi Marcel, danke für deinen Bericht. Bin gerade auch am überlegen, ob ich eine solche Behandlung mache.
    Wie hast du denn soziale Aktivitäten gemeistert? Also Feiern gehen, Kino, Date, Essen gehen etc. Kann mir das noch nicht so recht vorstellen.
    Und hast du wirklich immer die Schiene 22 Stunden pro Tag getragen?

    • Hey Johannes. Ich bin ja mittlerweile fertig mit der Behandlung und es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Nur noch mal so als generelle Zusammenfassung.

      Am Ende sind alle von dir genannten Situationen ja nicht so unterschiedlich. Wenn du was essen willst, musst du die Schienen rausnehmen. Das ist zuerst vielleicht etwas peinlich (sollte es natürlich nicht sein. Du machst etwas, das gut für dich ist, warum sollte man sich dafür schämen), aber nach ein paar Malen wird es normal. Wenn man Freunde hat, die sich darüber lustig machen, sollte man sie auch eher loswerden. Meine Meinung.

      Klar. Du wirst nicht 3 Stunden einem 30 Gänge-Mahl beiwohnen können, weil das deine 22 Stunden Tragzeit nicht mehr ermöglicht. Aber… naja, so ist das halt. Dann macht man was anderes.

      Wenn ich wusste, dass zwischen einer Speise und meiner Zahnbürste viel Zeit liegt, hatte ich ne Zahnbürste dabei. Manchmal habe ich geschummelt und mit der Schiene Weißwein getrunken, aber nie irgendwas mit Farbe. Und auch knutschen und alles andere geht mit der Schiene. Erst etwas ungewohnt, aber dann doch relativ easy. Dauert echt nur so 2-3 Monate, bis man sich völlig dran gewöhnt hat.

      Und ja… ich trug sie immer mindestens 22 Stunden am Tag. Wenn ich sowas mache, dann richtig. Ich gebe nicht dieses Geld aus, für ein Ziel, das mein eigenes ist und mache dann so halbgare Scheiße. Hörte von Leuten aus dem entfernteren Bekanntenkreis, die das nicht so ernst nahmen und dann auch mal ne Woche keine Schiene trugen und so, aber… naja. Ist schon objektiv ein bisschen dumm.

  • Hey Marcel, ich überlege mir auch eine unsichtbare Zahnschiene zu besorgen. Ich bin 23. Deine Perspektive mit 30+ Jahren und wie du in die 20er zurückblickst ist echt relatable.

    Ich habe eine Werbung von smiledirectclub.de gesehen und die bieten auch diese 22h abnehmbaren Zahnschienen an.

    Meine Frage ist, ob das Lispeln mit Zahnschiene ziemlich extrem ist.
    Mir ist klar dass v.a die „S“ Laute wahrscheinlich nicht so klar und scharf werden. Aber ich traue deiner kritischen Auffassung und Beurteilung.
    Ist das Lispeln so bemerkbar dass es Gespräche und Aufnahmen der Stimme negativ beinflusst?

    • Anfangs: Ja! Aber nach 3-4 Wochen hatte ich den Dreh raus und die einzige Person, die noch leichte Unterschiede in meinen S-Lauten hören konnte, war ich selbst. Dass ich ein Jahr komisch klingen würde, war auch meine Angst, aber das hat sich nicht bewahrheitet.

      Man muss aber auch dazu sagen, dass ich teilweise Bücher laut gelesen habe, damit ich die S-Laute üben konnte. 😀

  • Tatsächlich kommt es nicht selten vor, dass Eltern es versäumen, ihre Kinder zu einem Kieferorthopäden zu bringen. Auch dies ist ein Grund dafür, warum es nicht unüblich ist, auf Erwachsene zu stoßen, die eine Zahnspange tragen. Ein schönes Gebiss trägt mitunter zum Selbstbewusstsein bei, weshalb es nur verständlich ist, dass vielen Personen weiße und gerade Zähne wichtig sind.

  • Es ist gar nicht so selten, auf eine erwachsene Person mit Zahnspange zu stoßen, wie man zunächst vermuten würde. Neben versäumten Besuchen eines Kieferorthopäden im Kindesalter können auch Zahnverschiebungen, die im Erwachsenenalter passiert sind, ein Grund sein, sich als volljährige Person für eine Zahnspange zu entscheiden. Zum Beispiel können sehr spät austretende Weisheitszähne in manchen Fällen eine Verschiebung der Zähne bewirken.

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