Ein Quantensprung der Unterhaltung

Als ich mir damals™ meine Oculus Rift kaufte und die ersten Spiele ausprobierte, war ich mir schnell sicher, dass die Vorreiter dieser Technologie Recht haben und es sich um die Zukunft des (Videospiel-) Entertainments handelt. Klar, alles an diesem Medium ist noch so kostspielig, dass es für die meisten aktuell nicht erreichbar ist, aber das ist nur eine Frage der Zeit.

Viele Spiele wirkten wie Tech-Demos. Vielversprechend, aber nichts in das man Stunden über Stunden versenken würde. Einige Ausnahmen – Beat Saber, zum Beispiel – gab es bereits, aber im Schnitt waren die Spiele keine so genannten System Seller. Es gibt eine Handvoll spannende Produktivitäts-Programme. Quill und Medium als Beispiele, aber auch die sind nicht für allzu viele Nutzer interessant.

Half Life: Alyx ist ein Wendepunkt für das Medium VR. Das ist schwer nachzuvollziehen, wenn man selbst kein Headset und ausreichend Erfahrung mit VR hat, schließlich wirkt es nur wie ein weiterer Shooter, der eine Story erzählt, was ist daran schon besonders oder neu!

Als ich HL:A das erste Mal startete hatte ich im Titelscreen, der mich lediglich darauf hinwies, dass ich eine Taste drücken soll, Gänsehaut und sagte laut “Whoa!”. VR ist eine Ganzkörper-Erfahrung, die in Videos und Texten über VR-Spiele nicht vermittelt werden kann. Ich sehe nicht ein Bild und einen Text, der mich darauf hinweist etwas zu drücken. Ich stehe vor 3 Meter hohen Buchstaben, die vor einem 200 Meter hohen Gebäude fliegen. Wenn ich im echten Leben einen Schritt nach vorne mache, gehe ich auf die Buchstaben und das Gebäude zu. Das ist nicht damit vergleichbar “W” für eine Sekunde auf der Tastatur zu drücken, damit sich der Bildausschnitt auf dem Bildschirm leicht verändert.

Ich beschreibe das so ausführlich, weil man nicht verstehen kann, wie sich ein Spiel wie Half Life: Alyx anfühlt, wenn man es in Videos oder Screenshots sieht. Man vergleicht Bilder und Videos mit vorherigen Erfahrungen, die man in Nicht-VR Shootern hatte und das ist falsch. Leute arbeiten gerade daran HL:A zu modden, damit man es ohne Headset spielen kann. Leute, die das Spiel auf klassische Art spielen werden, können nicht von sich behaupten Half Life: Alyx wirklich erlebt zu haben. Klar, sie haben die Story konsumiert, aber das war’s. Mit Maus und Tastatur wird jeder Kampf zu einem weiteren Kampf in einem weiteren Shooter. Wenn man sich im echten Leben ducken muss um Geschossen auszuweichen oder durch Lüftungsschächte zu klettern, verändert das die Dynamik.

14 Stunden verbrachte ich in Half Life: Alyx. Seit der ersten Minute wusste ich, dass ich am Ende bereuen werde, dass es vorbei ist. In keiner anderen Situation in meinem Leben, habe ich jemals so sehr empfunden in einer anderen Welt zu sein.

Atmosphäre ist ein Begriff, der für vieles benutzt wird und daher der Erfahrung in City 17 anzukommen nicht wirklich gerecht wird. Der beste Vergleich, den ich aufbringen kann, ist das, was ich damals empfand, als ich Harry Potter das erste Mal gelesen habe. Die Welt fühlte sich für mich so realistisch an, dass ich über sie nachdachte, selbst wenn ich gerade nicht las. Ich erinnerte mich in meinem Alltag an Situationen und Orte aus den Büchern. Seit Harry Potter habe ich diese Intensität an Atmosphäre nicht wieder in Büchern empfunden. Aber Half Life: Alyx toppt das. Um Längen.

Heute hörte ich die aktuelle Folge Cortex. Einer der Hosts spricht darüber, dass er in Quarantäne sein VR Headset benutzt um sein Gehirn auszutricksen. Eine Stunde in Beat Saber fühlt sich an, als wäre er tatsächlich woanders gewesen. Ausflüge in VR sind, auf eine sehr überraschende Art, echte Ausflüge. HL:A treibt das auf die Spitze. Seit ich das Spiel vor einigen Wochen durchspielte, vermisse ich es. Wenn ich daran zurückdenke, fühlt es sich an, als würde ich mich an einen Urlaub erinnern. Ich sah neue Sachen, erlebte Dinge, traf Charaktere und erlebte eine Abenteuer. Ich(!) erlebte ein Abenteuer und schaute nicht anderen dabei zu, wie sie es erleben.

Durch die Ganzkörpererfahrung erinnere ich mich an die Zeit in dieser Welt erheblich intensiver als an Filme, oder Bücher.
Nachdem ich HL:A durchspielte und versuchte meine Begeisterung mit anderen zu teilen, frustrierte mich, dass es kaum möglich ist, wenn die andere Person nicht die gleiche Erfahrung gemacht hat. Klinge ich wie jemand, der das erste Mal LSD nahm und ständig darüber reden muss? Vielleicht. Dieser Text ist eigentlich auch nur ein weiteres Beispiel dafür, wie unmöglich es ist zu beschreiben wie Half Life: Alyx sich anfühlt. Leute, die es gespielt haben werden nicken und sich verstanden fühlen. Alle anderen denken „Ja, das klingt ja irgendwie ganz nett, aber ist halt ein Videospiel”.

Ich würde argumentieren, dass es mehr als das ist. Es ist ein Quantensprung der Unterhaltung. Vielleicht würde ich soweit gehen zu sagen, dass VR-Erfahrungen dieser Art die aktuell höchste Form der Kunst sind. Mutige Aussage und ich bin mir sicher, dass jemand, der irgendwo im Louvre mal vor einer Leinwand voller Öl in Tränen ausbrach, weil die Erfahrung so tiefgründig war, mir widersprechen würde. Ist natürlich subjektiv. Allerdings sehe ich nicht, wie jemand unbeeindruckt aus Half Life: Alyx herausgehen könnte.

Hallo, ich bin Marcel, zeichne selten Comics, schreibe manchmal Texte, gestalte öfter Digitale Produkte und interessiere mich für Bücher, Digitalen Minimalismus, Philosophie, Kunst und Videospiele. 👋

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